Eesti maitse (und noch mehr)

Das Wort maitse, zu Deutsch Geschmack, gehörte schon immer zu meinen estnischen Lieblingswörtern. Im Hobby- und Gästeraum meiner Eltern hängt seit Jahren ein estnisches Coca-Cola-Werbeplakat, auf dem für den neuen Geschmack, uus maitse, des Getränks geworben wird. Ich habe mich zwar schon immer gefragt, was man am typischen Colageschmack großartig verändern kann, aber die Kombination der beiden Wörter uus und maitse finde ich einfach gut. Man hört sie auch ab und an beim Einkaufen in den Filialen der estnischen Supermarktkette „Selver“, denn da tönt immer Werbung aus Lautsprechern. Durch die überlange Aussprache des Doppel-U kann man uus maitse so richtig schön ausruffen oder schmettern, wohingegen „neuer Geschmack“ wahrscheinlich niemanden hinterm Ofen hervorlocken würde.

Wie gut, jetzt habe ich gleich zwei mögliche Überleitungen zum Hauptsinn und -zweck dieses Posts: Geschmack und Ofen. Denn es folgt, man konnte es bereits erahnen, ein Rezept. Aber nicht für Weihnachtsplätzchen, sondern für Brot. Estnisches Roggenbrot, Rukkileib, für mich der estnische Geschmack schlechthin. Eesti maitse eben. Das Rezept habe ich von einer estnischen Roggenmehlpackung aus oben genannter Supermarktkette, und als ich es letztes Jahr in Tartu ausprobierte, war ich begeistert, das Brot schmeckt wirklich wie gekauftes estnisches Roggenbrot.

Rukkileib

Zutaten für ein Brot:

  • 5 dl Kefir (ersatzweise Buttermilch)
  • 30 g frische Hefe
  • 3 EL Zucker
  • 2 TL Salz
  • 3 TL Kümmel (ganz)
  • 80 ml Apfelsaft
  • 850 g Roggenvollkornmehl (ggf. etwas mehr)

Zubereitung:

  • Den Kefir in einem Topf erwärmen, bis er lauwarm ist. Auf keinen Fall zu heiß werden lassen!
  • Die Hefe zerbröckeln und in dem Kefir auflösen.
  • Zucker, Salz, Kümmel und Apfelsaft zum Kefir geben und alles gut verrühren.
  • Dann das Mehl hinzufügen und alles zu einem festen Teig verkneten. Je nach Konsistenz noch etwas Mehl zugeben.
  • Den Teig zugedeckt an einem warmen Ort 1-2 Stunden gehen lassen.
  • Danach den Teig zu einem Brotlaib formen oder in eine Form geben und bei 180° (Umluft) etwa 30 Minuten backen.

Das war’s schon. Total simpel, aber ein tolles Ergebnis. Wenn man jetzt noch estnische lastevorst (wörtlich übersetzt Kinderwurst, eine Art Fleischwurst) oder Schmelzkäse der Marke Merevaik (Bernstein) aufs Brot tut, ist das estnische Geschmackserlebnis vollkommen. Diesen Schmelzkäse habe ich als Kind gefühlt tonnenweise verspeist. Roggenbrot mit Merevaik im Sommer draußen vor dem grünen Haus in Otepää oder an einem Seeufer – für mich gab es kaum etwas Besseres. Einmal wollte ich mir nach einem Estland-Urlaub etwas Schmelzkäse mit nach Deutschland nehmen, der wurde mir dann am Flughafen aber abgenommen. Da war ich wirklich traurig. Aber immerhin kann ich mir inzwischen echtes estnisches Roggenbrot selber backen. Ich esse es übrigens auch gerne mit Honig.

Bei Honig fällt mir etwas ein, was ich während meiner Zeit in Tartu hier im Blog komischerweise nie erwähnt habe. Honig verbinde ich mit einem der Helden meiner Kindheit, nämlich Pu dem Bären (ja, Pu der Bär und nicht Winnie Puuh, denn mir gefallen die Originalzeichnungen viel besser als die Disney-Version). Merit zeigte mir letztes Jahr die russische Version der Pu-Geschichten, die auch nach der Unabhängigkeit noch im estnischen Fernsehen liefen, auf Russisch mit estnischen Untertiteln. Es ist wenig erstaunlich, dass in der Sowjetunion keine amerikanischen Sendungen gezeigt wurden, aber dass man die Geschichten und Charakterzüge der Figuren fast eins zu eins übernommen hat, hat mich dann doch überrascht. Die Figuren wurden allerdings ganz neu gezeichnet, wobei vor allem die Hauptfigur, Pu, sehr anders aussieht als das Original. Der russische Winnie Pu (auf Russisch etwa „Winje Puch“ ausgesprochen) hat in Estland quasi Kultstatus, man kann dort bis heute Plüschfiguren kaufen. Ich muss ja sagen, dass ich die Sowjet-Version trotz der äußerlich starken Abweichung vom Original sehr niedlich finde – und vor allem amüsant, besonders die Stimmen der Figuren. Leider kann ich kein Wort Russisch, aber zum Glück hat sich jemand die Mühe gemacht, ein paar Folgen mit englischen Untertiteln auf YouTube hochzuladen. Eine davon möchte ich euch hier zeigen. Auf diesem Kanal findet ihr noch drei weitere Folgen, ebenfalls mit englischen Untertiteln. Leider habe ich keine Videos mit estnischen Untertiteln gefunden. Für diejenigen unter euch, die zumindest ein wenig Russisch beherrschen, sind die Videos wahrscheinlich besonders interessant. Und man könnte sicherlich auch eine wissenschaftliche Arbeit über die Unterschiede zwischen dem Original und der Sowjet-Version verfassen. Die Art, wie der russische Pu beim Spazierengehen (oder eher: Marschieren) singt, erinnert mich jedenfalls ein wenig an Propagandagesänge …

Und nun noch etwas aus dem estnischen Fernsehen, allerdings etwas deutlich aktuelleres. Der von mir schon des Öfteren erwähnte Street-Art-Künstler, der unter dem Pseudonym Edward von Lõngus schon viele Ecken in Tartu verziert hat, hat vor Kurzem die Fassade eines Supermarktes in der Gemeinde Palamuse (Landkreis Jõgevamaa, nördlich von Tartu) mit einem besonders großen Motiv bemalt. Dieses war sogar Thema in der Nachrichtensendung Aktuaalne Kaamera (Aktuelle Kamera). Den Beitrag könnt ihr euch mit einem Klick ansehen. Der Künstler spielt mit diesem Motiv auf den estnischen Film „Kevade“ (Frühling) aus dem Jahre 1970 an, der auf einem Roman von Oskar Luts basiert. Statt der beiden berühmten Charaktere aus „Pulp Fiction“ sieht man an der Fassade des Supermarkts nun Arno und Toots aus „Kevade“. Roman und Film erzählen von der Jugend auf dem estnischen Land. Auf YouTube hat Edward von Lõngus auch ein Video hochgeladen, in dem es um die beiden Filme und das Werk in Palamuse geht. Die Bevölkerung von Palamuse, sowohl jung als auch alt, findet das Werk – laut dem Fernsehbeitrag – übrigens „väga tore“ (sehr toll). Da es zu „Kevade“ zwei Fortsetzungsfilme gibt („Suvi“ und „Sügis“, also „Sommer“ und „Herbst“), ist vielleicht mit weiteren Werken dieser Art zu rechnen. Ich bin gespannt. Ich habe den TV-Beitrag übrigens auch deshalb hier verlinkt, weil dieser Supermarkt architektonisch besonders schön ist (Ironie!).

Also, backt estnisches Roggenbrot und schaut euch beim Essen den russischen Pu an!


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